Dem Krautkopf geht´s an den Kragen

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Dem Krautkopf geht´s an den Kragen

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Veröffentlicht von info@politogo.de in Umwelt · 2 Oktober 2019
Tags: Flächenverbrauch

© Jürgen Lessat

"How dare you?" Wie könnt Ihr es wagen? Längst ist diese Frage in Greta Thunbergs Rede vor den Staats- und Regierungschefs auf dem UN-Klimagipfel in New York zur Anklage geworden. Zum geflügelten Satz fürs zaghafte oder gleich gar nichts Tun beim Klimaschutz. Steffen Siegel stellte am vergangenen Freitag dieselbe Frage: "Wie könnt Ihr es wagen?" Zwar in sehr viel kleinerem und bescheidenerem Rahmen während einer Podiumsdiskussion in Leinfelden. Und nicht bezogen auf die Zukunft der Menschheit, allerdings mindestens ebenso vehement. Siegel geht es ums Kraut. Genauer: ums Filderspitzkraut. Vor mehr als 500 Jahren erstmals von Mönchen angebaut, hat es sich zur regionalen Berühmtheit gemausert – nicht nur unter Spitzkrautliebhabern und Fans von Sauerkraut. Das Filderkraut gehört auf die Fildern wie die Mozartkugel nach Salzburg. Ganz besonders zart soll es sein, sagen Kenner.

Siegel ist Vorsitzender der Schutzgemeinschaft Fildern. Seit Jahren verteidigen er und seine Gemeinschaft das Kraut und vor allem die besonderen Böden, auf denen es wächst, gegen Profitgier und Flächenfraß, der nach Überzeugung der Initiative einem überholten Wachstumsglauben geschuldet ist. Wenn es anders nicht geht, dann auch durch so radikale Maßnahmen wie einen Zuzugstopp von Unternehmen und Menschen. Nachhaltigkeit genügt den Umweltaktivisten längst nicht mehr. "Wir müssen enkelverträglich leben", sagt Siegel und fordert, jegliches Planen und Handeln unter den Vorbehalt zu stellen, dass es nachfolgenden Generationen weder Lebensqualität noch Lebensgrundlagen raubt.

Studie prognostiziert weiteren Flächenfraß

Der Anlass für Siegels Appell: eine Anfang des Jahres veröffentlichte Studie der Frankfurter Planungsbüros AS+P, die sich der "Überprüfung und Weiterentwicklung der räumlichen Wachstumspotenziale im Filderraum" widmete. Die "Filderstudie" war vom Verband der Region Stuttgart (VRS) und dem Kommunalen Arbeitskreis Filder (KAF) in Auftrag gegeben worden, einem Zusammenschluss der Fildergemeinden (Leinfelden-Echterdingen, Filderstadt, Ostfildern, Denkendorf, Neuhausen, Steinenbronn; und weil Stadtteile von Esslingen und Stuttgart auf den Fildern liegen, gehören auch diese beiden Städte dazu). Ihr Fazit: Die Fildern werden dank ihrer guten Verkehrsanbindungen auch in Zukunft eine "dynamische Entwicklung" zeigen. Vor allem der Stuttgarter Flughafen, wo im Zuge von Stuttgart 21 irgendwann einmal auch ICEs halten sollen, wird die weitere Ansiedelung von Unternehmen und Firmen pushen, prophezeien die Autoren: "Die Mobilitätsdrehscheibe am Flughafen und ihr Umfeld sollen sich aufgrund der Erreichbarkeitsvorteile zu einem Siedlungs- und insbesondere Wirtschaftsflächenschwerpunkt entwickeln."

120 Hektar seien laut der Studie auf den Fildern als neue Gewerbeflächen ausweisbar. Mit mehr Arbeitsplätzen wird auch die Nachfrage nach Wohnungen weiter steigen, erwarten die Autoren. Deshalb sollten alte Wohngebiete verdichtet und neue konzentriert werden – in der Summe sei noch Platz für 83 Hektar neue Wohnquartiere, rechnen die Autoren vor. Frei übersetzt: Es lebe der Bau-Boom. Für Siegels Schutzgemeinschaft ist diese Studie ein rotes Tuch. Schon der Name der Ebene deutet an, für was die Bürgerinitiative seit über einem halben Jahrhundert kämpft. Sprachhistorisch sind die Fildern mit dem heutigen Begriff Felder verwandt. Mit ihren Lössböden eignen sie sich hervorragend für die landwirtschaftliche Nutzung. Etwa die Hälfte der Filderböden erreichen eine Bodenwertzahl von 75 und mehr, an einigen Stellen über 90 auf der Skala, die Ertragsfähigkeit misst: 0 bis 10 ist Sand, 71 bis 90 Lehm mit Löss, und die höchste Stufe, 91 bis 100, erreicht nur reiner Lössboden. Damit gilt die Hochebene als eine der fruchtbarsten Landschaftsräume deutschlandweit.

Nicht von ungefähr gelten die Fildern als der "Gemüsegarten Stuttgarts" – der sogar mit dem Klimawandel einigermaßen zurechtkommt“, erwähnt Siegel. Denn neben dem Weißkohl bauen die Landwirte auch Salate und andere Gemüsesorten zur Versorgung der Region an. Allerdings schwindet die fruchtbare Heimat des Kohls kontinuierlich, zuletzt in dramatischem Tempo. Von 171 000 Hektar zur Jahrtausendwende nahm sie nach Angaben der Schutzgemeinschaft auf 165 000 Hektar im Jahr 2015 ab. "Das entspricht 4800 Fußballfeldern", verdeutlicht Siegel den Flächenverlust. Hungrig auf die fruchtbaren Böden waren in der Vergangenheit – alle. An ihnen nagen die angrenzenden Kommunen, deren Bebauungspläne für neue Wohn- und Gewerbegebiete und die dazu benötigte Infrastruktur, um mehr Einwohner, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu gewinnen.

Auf den Fildern lebten 2015 rund 260 000 Menschen. Seit dem Jahrtausendwechsel zog die Hochebene wie ein Magnet neue Bewohner an. Die Filderkommunen (inklusive der Stuttgarter und Esslinger Stadtteile außerhalb des Filderraums) wuchsen zwischen 2000 und heute um mehr als 60 000 Einwohner. Prozentual am stärksten stiegen sie in diesem Zeitraum in Ostfildern (plus 27,4 Prozent, von 30 858 auf 39 321) und Leinfelden-Echterdingen (plus 11,3 Prozent, von 36 026 auf 40 092). Die beiden Kommunen gelten damit als Boom-Städte im Südwesten, die sogar die Landeshauptstadt in dieser Disziplin auf die Plätze verweist, denn Stuttgarts Bevölkerung stieg im selben Zeitraum "nur" um 8,7 Prozent auf zuletzt 634 830 Menschen. Zum Vergleich: Landesweit nahm die Bevölkerung seit der Jahrtausendwende um 5,2 Prozent zu.

Es fehlt an brauchbarem Ersatz

Massiv Filderflächen gefressen haben in der Vergangenheit auch zahlreiche Großprojekte. Der Verlängerung der Startbahn des Stuttgarter Flughafens in den 1990er Jahren fielen auf einen Schlag 200 Hektar Acker zum Opfer. In gleicher Größenordnung verschwand Lössboden Anfang des Jahrhunderts unter Beton, als die damalige CDU-Landesregierung unter Ministerpräsident Erwin Teufel gegen den Widerstand von Bürgern und Kommunen den Bau eines neuen Messegeländes zwischen Flughafen und Autobahn durchdrückte.

Die Verlegung und Verbreiterung der A 8 sowie der Ausbau der Bundesstraße 27 und des Straßenknotens Echterdinger Ei schluckten noch mehr Felder. An Ausgleichsflächen, auf denen betroffene Landwirte ihr künftiges Auskommen finden sollen, herrscht seit Jahren absoluter Mangel. Beim Bau der neuen Landesmesse, die einige störrische Bauern mit Grundenteignungen bezahlten, fand sich nirgends mehr auf den Fildern brauchbarer Ersatz.

Bis heute ist die großflächige "Umwidmung" der Flächen weiter in vollem Gange. Aktuell durch das Tiefbahnhofprojekt Stuttgart 21. Nach einem fast zehn Kilometer langen Anstieg aus dem Talkessel der Landeshauptstadt sollen die Züge auf einer Schnellfahrstrecke die Fildern queren und bei Wendlingen die Neubaustrecke nach Ulm erreichen. Am Flughafen ist ein unterirdischer Halt für ICEs wie Regionalzüge geplant, dennoch verläuft ein Großteil der Trasse oberirdisch entlang der Autobahn A 8. Rund 60 Hektar Äcker und Felder gehen dadurch verloren. Noch unklar ist, wie viel Boden die Anbindung der Gäubahn an Stuttgart 21 kosten wird. "Die Zerstörung von fruchtbarstem Ackerland ist nie mehr rückgängig zu machen", sagt Steffen Siegel in Leinfelden. Ebenfalls zu Gast bei der Diskussion ist Christoph Simpfendörfer, Landwirt und Generalsekretär von Demeter International: "Die verfügbare landwirtschaftliche Fläche nimmt pro Generation um zwanzig Prozent ab." Schon heute könne sich Deutschland nicht selbst ernähren und sei auf Futtermittelimporte angewiesen. Etwa aus Brasilien, wo der Amazonas-Regenwald für Sojaanbau und Rinderzucht abgebrannt wird. "Die Filderstudie ist eine gigantische Flächenverbrauchsmaschinerie. Sie legitimiert die vollständige Zerstörung des Filderbodens", projiziert ein Beamer auf die Hallenleinwand.
Jeder Neubürger kostet 200 Quadratmeter Boden
Für Thomas Kiwitt schießt die Schutzgemeinschaft damit weit übers Ziel hinaus. "Die Studie ist keine Planung, sie ist ein Diskussionsentwurf", betont der Technische Direktor beim Verband Region Stuttgart. Ihr Ziel sei, ins Gespräch zu kommen: "Die Entscheidung liegt bei Gemeinde- und Regionalräten, am langen Arm sitzen Menschen." Auch lasse sich die Diskussion nicht auf den Bodenschutz begrenzen. "Wir müssen unseren Kindern und Enkeln Heimat bieten und Existenzgründungen ermöglichen", sagt er und verweist auf den Wohn- und Arbeitsplatzbedarf künftiger Generationen.

Laut Kiwitt zogen im vergangenen Jahrzehnt 100 000 Menschen in die Region Stuttgart. Für jeden Neubürger seien 200 Quadratmeter für Wohnung, Arbeitsplatz und Infrastruktur benötigt worden, das ist der Erfahrungswert. Im Rest des Landes liege der Flächenbedarf für jeden Neubürger dagegen bei 1200 Quadratmeter. "Wir können mit Grund und Boden in der Region gut umgehen", meint Kiwitt.

Filderstadts Oberbürgermeister Christoph Traub hebt ebenfalls auf die Komplexität der Fragestellung ab. Sinngemäß: Arbeitsplätze und Wohnungen oder Kraut? Als OB müsse er Antworten auf soziale Fragen liefern. So stapelten sich allein in seiner Stadt derzeit 251 Anträge auf geförderten Wohnraum. Dazu komme der demografische Wandel: Geburtenstarke Jahrgänge gingen in den kommenden Jahren in den Ruhestand und deshalb würden nicht nur neue Mitarbeiter benötigt, die deren Arbeitsplätze besetzen, sondern auch Pflegepersonal für die Alten. Es gelte, Mittelwege zu finden, um Flächenbedarf und Flächenschutz in Einklang zu bringen, sagt Traub.

Ein genereller Baustopp, um den fruchtbarsten Boden Deutschlands vor neuen Eigenheimen, Büropalästen und Straßen zu schützen? Das wird auf den Fildern demnach auch in Zukunft ein frommer Wunsch bleiben. Der Platz für die berühmten Krautköpfe wird auch in Klimakrisen-Zeiten schrumpfen.



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