Die vergessenen Toten

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Die vergessenen Toten

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Veröffentlicht von Jürgen Lessat in Klimakrise · 2 Januar 2021
Tags: HitzetoteHitzewellePandemieKlimaschutz
Am Klimawandel sterben hierzulande immer mehr Menschen. Doch anders als die Opfer der Corona-Pandemie sind Hitzetote bislang kein Thema für Politik und Gesellschaft.

Stell Dir vor, daheim, in Stiften und Kliniken sterben die Leut - und keinen interessiert´s. Unvorstellbar, gerade in diesen Pandemiezeiten. Oder vielleicht doch? Tatsächlich wird seit Monaten diskutiert, ob Covid-19 zu einer Übersterblichkeit führt. Also mehr Menschen sterben als zu erwarten wäre. Die Sterbefallstatistik gibt die Antwort: die Zahlen liegen in der ersten und in der zweiten Coronawelle über dem Durchschnitt der vorangegangen drei Jahre. Das zeigen aktuelle Auswertungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis).*

Doch über Deutschland schwappte im vergangenen Sommer noch eine weitere tödliche Welle: eine extreme Hitzewelle. Auch sie spiegelt sich in der Sterbefallstatistik wider. Ohne, dass Politik, Medien oder Gesellschaft bislang nenenswert darauf reagierten.



Die Destatis-Grafik zeigt Phasen der Übersterblichkeit: die "Bandbreiten"-Schwankungen zu Jahresbeginn und zur Jahresmitte - sowie in 2020 überdurchschnittliche Todesfallzahlen ab Kalenderwoche 33. Beides lässt sich erklären: Zu Jahresbeginn spiegelt die
Grafik die typischen Schwankungen während der Grippezeit wider, die ungefähr von Mitte Dezember bis Mitte April dauert. So gab es im März 2020, also zu Beginn der Corona-Pandemie deutschlandweit 87.432 Sterbefälle. Im März 2019 starben etwa 86.700 Menschen. Im März 2018, in einem Jahr mit besonders heftiger Grippewelle, waren es 107.100 - es starben also rund 20.000 Menschen mehr als erwartbar.  "Auch ohne Corona-Pandemie können die Sterbefallzahlen demnach insbesondere in der typischen Grippezeit stark schwanken", betont Destatis.

Die auffällige Entwicklung der Sterbefälle zur Jahresmitte 2020 hat dagegen klimatologische Gründe. So litt Deutschland im letzten Sommermonat des vergangenen Jahres unter einer extremen Hitzewelle. "Der August 2020 war nach dem August 2003 mit 20,6 °C gemeinsam mit 2015 und 2018 der zweitwärmste seit 1881", vermeldete der Deutsche Wetterdienst. Dieses große Temperaturplus war insbesondere auf eine sehr heiße und feuchte Witterung zwischen dem 5. und 22. August zurückzuführen: Zeitweise stiegen die Höchstwerte auf über 35 °C. Im Südwesten und Nordosten von Deutschland wurden an bis zu 15 Tagen Höchstwerte von über 30 °C (sogenannte Hitzetage) gemeldet. Die höchste Temperatur wurde am 9. mit 38,6 °C in Trier-Petrisberg registriert.


Es wird heißer: Seit 1980 gab es 32 Jahre, die teils um mehrere Kelvin wärmer waren, und nur 8 Jahre, die um maximal 1 Kelvin kühler waren (Quelle: DWD)


Die Hitzebelastung im August 2020 spiegelt sich 1:1 in der Sterbefallstatistik wider:
Ein deutliches Maximum gab es in der 33. Kalenderwoche (10. bis 16. August). Hier lagen die Sterbefallzahlen 21 Prozent über dem Durchschnitt. Im gesamten August starben 78.569 Menschen. Das waren 5.125 Sterbefälle mehr als im gleichen Monat des Vorjahres (73.444). Deutlich weniger Sterbefälle gab es auch im August 2017 (71.488) und August 2016 (71.295). Im ebenfalls "heißen" August 2018 starben dagegen mit 78.370 Menschen fast gleich viele wie in 2020. "Mit rund 20,0 Grad Celsius (°C) lag im August 2018 der Temperaturdurchschnitt um 3,5 Grad über dem Wert der international gültigen Referenzperiode 1961 bis 1990", vermeldete der Deutsche Wetterdienst damals.

Lancet-Report Auswirkungen von Klimawandel auf Gesundheit

Neueste Daten und Fakten zu Folgen des Klimawandels auf Gesundheit: "The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change" (Bild: Screenshot www.lancetcountdown.org)


D
er Klimawandel fordert immer mehr Hitzetote, vor allem unter älteren Menschen, und Deutschland gehört zu den weltweit am stärksten betroffenen Ländern - so das Ergebnis des "The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change", der im vergangenen Dezember veröffentlicht wurde. Demnach kam es in Deutschland in den Jahren von 2014 bis 2018 im Durchschnitt zu 12.076 vorzeitigen Todesfällen durch extreme Hitzeeinwirkung. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2004 lag die Zahl der vorzeitigen Todesfälle noch bei 8438. Allein für das Jahr 2018 beziffert der Lancet-Report die Zahl der über 65-Jährigen in Deutschland, die im Zusammenhang mit Hitze starben, auf rund 20.000. Nur die zwei bevölkerungsreichsten Staaten der Welt zählten in dem Rechenmodell 2018 mehr Hitzetote: China mit 62.000 und Indien mit 31.000 Hitzetoten.

Leicht zurückgegangen ist laut Lancet-Report das Risiko, in Deutschland durch Luftverschmutzung vorzeitig zu sterben. Durch Kohleverbrennung seien 2015 geschätzt 9.280 Menschen in Deutschland früher gestorben. 2018 waren es noch 8.140.


Noch bis 2038 soll in Deutschland Braunkohle abgebaggert und verbrannt werden - was nicht nur das Klima schädigt, sondern zuletzt jährlich 8.140 Tote durch Luftverschmutzung fordert. (Bild: Pixabay)

 
Der Zusammenhang zwischen CO2-Emissionen, globaler Klimaerwärmung, extremen Hitzewellen und tausenden Toten hierzulande ist offensichtlich. Doch anders als in der Corona-Pandemie, in der Lockdowns, Social Distancing und Milliardentransfers ins Gesundheitswesen die Zahl der Opfer begrenzen sollen (Stand Ende 2020: 33.230 Todesfälle), scheinen Hitzetote kein Thema für Politik und Regierung zu sein. Reaktionen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf den alarmierenden Lancet-Report? Fehlanzeige. Der letzte Online-Eintrag seines Mininisteriums zum Thema stammt vom Juni 2019 und verweist auf ein Forschungsvorhaben der
Universität Duisburg-Essen, das den Einfluss von Hitze auf Morbidität untersuchte. Konsequenzen: keine.

Welchen unterschiedlichen Stellenwert die tödlichen Folgen von Pandemie und Klimaerwärmung einnehmen, zeigt sich beispielhaft auch in einer Google-Suche zu "Bundeswirtschaftsministerium", das die finanziellen Hilfen der Pandemie koordiniert. In Kombination mit "Coronatote" liefert die Suchmaschine 257.000 Ergebnisse. Die gleiche Suche mit "Hitzetote" ergab 575 Treffer.

Nicht nur bei der notwendigen Anpassung auf Hitzewellen versagt die Bundesregierung. Die einstige Vorreiterrolle im Klimaschutz hat Deutschland im Laufe des langen Regierens unter der Führung von Angela Merkel (CDU) verloren. Im aktuellen Klimaschutz-Index 2021 der NGO Germanwatch kletterte
Deutschland im Vergleich zum Vorjahr zwar um vier Plätze nach oben - von Rang 23 auf 19. Wegen zu schwacher Ausbauziele für erneuerbare Energien, zu wenig Fortschritt im Verkehrsbereich, ein hoher Energieverbrauch sowie hohe Emissionen klimaschädlicher Treibhausgase pro Einwohner reichte es in fast allen Kategorien - bis auf Klimapolitik - nur für die Bewertung "mittelmäßig", so Jan Burck von Germanwatch, einer der Hauptautoren des Index.

Die nächste Hitzewelle kommt bestimmt. Und mit ihr der nächste Ausschlag nach oben in der Sterbefallstatistik.



*
Um die Frage zu beantworten, ob Covid-19 zur Übersterblichkeit führt, wertet das Statistische Bundesamt (Destatis) die vorläufigen Sterbefallzahlen in Deutschland aus und verglich sie mit den Daten aus den Jahren 2016 bis 2019. Demnach lagen im April 2020 (ab Kalenderwoche 13) die Sterbe­fallzahlen deutlich über dem Durch­schnitt der Vorjahre. Gleich­zeitig war ein Anstieg der Todesfälle zu beobachten, die mit dem Corona­virus in Zusammen­hang stehen. Als diese zurück­gingen, bewegten sich ab Anfang Mai auch die Sterbe­fallzahlen zunächst wieder etwa im Durch­schnitt. Im August, ab Kalenderwoche 33, waren sie allerdings wieder erhöht, was seinen Grund in der extremen Hitzebelastung hat. Auch im September lagen sie etwas über dem Durchschnitt der Vorjahre. Nach durchschnittlichen Sterbefallzahlen in der ersten Oktoberhälfte sind die Sterbefallzahlen seit der zweiten Oktoberhälfte wieder überdurchschnittlich. Zugleich stiegen die Covid-19-Todesfälle.


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