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Veröffentlicht von info@politogo.de in Umwelt · 11 März 2020
Tags: CoronaCovid19MerkelSpahnWielerRKIKekulé
Der Appell klingt dramatisch: „Ich fordere alle Bürgermeister und Landräte auf, ihre Krisenpläne zu aktivieren“, mahnte Professor Lothar Wieler. „Es ist eine ernste Situation“, so der Präsident des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) am gestrigen Dienstag (10. März 2020).

RKI-Präsident Pro. Lothar Wieler auf der Bundespressekonferent am 11.3.2020
Die Strukturen müssten so verändert werden, dass mehr schwer an Covid-19 erkrankte Menschen in Krankenhäusern behandelt werden könnten. Zur Anpassung der Strukturen zählte Wieler, nicht zwingend erforderliche Eingriffe auszusetzen. Außerdem sei sinnvoll, mehr Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung zu stellen. Krankenhäuser könnten etwa dafür sorgen, dass Patienten mit einem Verdacht auf Coronavirus anders aufgenommen werden als andere Patienten. So könne sich eine feste Gruppe des Personals nur um diese Patienten kümmern und sich entsprechend besser vor einer eigenen Ansteckung schützen. „Wir stehen am Anfang dieser Epidemie“, sagte Wieler. „Wir werden sie nur bewältigen, wenn alle Verantwortungsträger mit dieser bevorstehenden Krise entsprechend umgehen.“

Am Tag zuvor waren die ersten zwei Infizierten in Deutschland an Covid-19 gestorben. Es handelt sich um eine 89-jährige Frau aus Essen und einen 78-jährigen Mann aus Heinsberg, der unter Vorerkrankungen litt. Damit nimmt die Corona-Epidemie hierzulande eine dramatische Entwicklung – die noch vor wenigen Tagen und Wochen völlig unterschätzt wurde. Gerade am Anfang der weltweiten Infektionswelle, als das Virus sich von China aus auch nach Europa ausbreitete, handelten selbst Experten unangepasst, wenn nicht sogar unverantwortlich, wie sich im Rückblick zeigt.

Etwa Ende Januar, als das Virus erstmals in Deutschland auftauchte und bei Mitarbeitern eines Autozulieferers in Bayern nachgewiesen wurde. „In China treten derzeit vermehrt Krankheitsfälle (auch Pneumonien) durch ein neuartiges Coronavirus (2019-nCoV) auf. Betroffen ist insbesondere die Metropole Wuhan (11 Millionen Einwohner) und die Provinz Hubei, zu der Wuhan gehört. Das neuartige Virus gehört wie das SARS-Virus zu den beta-Coronaviren“, vermeldete das RKI damals auf seiner Homepage. „Mit einem Import von weiteren einzelnen Fällen nach Deutschland muss gerechnet werden. Auch einzelne Übertragungen in Deutschland sind möglich“, schätzte das RKI die Risikolage damals ein. Die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland durch die neue Atemwegserkrankung bleibe weiterhin gering.‎ „Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern“, so immerhin der Hinweis.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) während der BundespressekonferenzFast schon dramatisch verharmlosend klingt, was RKI-Präsident Wieler eine Woche zuvor, am 22. Januar, im 3sat-Magazin „nano“ gesagt hatte. "Es sind sehr wenige Fälle außerhalb Chinas. Die Menschen wurden erkannt und werden dort behandelt“, betonte Wieler damals. Um am Schluss des Statements eine trügerische Beruhigungspille zu verteilen: „Insgesamt gehen wird davon aus, dass sich das Virus nicht sehr stark auf der Welt verbreitet.“

„Aus Sicht eines Epidemiologen ist es natürlich ein bisschen frustrierend, wenn es anfangs zu so einer krassen Fehleinschätzung kommt“, urteilte Alexander Kukulé von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenbergrückblickend gestern im ZDF bei Markus Lanz. Der Experte erinnerte daran, dass damals auch „von gleicher Seite“ gesagt worden sei, dass „die Influenza viel schlimmer ist. Bei Lanz scheute sich der Virologe nicht, diese Fehleinschätzung als „Missmanagement“ zu brandmarken, das das Vertrauen der Bevölkerung ins gesamte Gesundheitssystem erschüttern und so letztlich Panik auslösen könnte.

Dabei beschränkte sich das Missmanagement nicht nur auf Aussagen, die sich spätestens im Nachhinein als falsch erwiesen. Erst spät, im weiteren Verlauf der Virusausbreitung, wurde offenbar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) klar, dass es in hiesigen Krankenhäusern und Arztpraxen massiv an Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel mangelt. Weder Pandemiepläne noch Experten hatten eine Vorratshaltung oder Aufstockung von Beständen vor(her)gesehen. Obwohl schon wochenlang Fernsehbilder aus China medizinisches Personal in voller Schutzausrüstung und die Bevölkerung nur mit Atemschutzmasken zeigten. Viel zu spät zog Spahn mit einem Ausfuhrstopp die Notbremse. Bezeichnend für das inadäquate Handeln waren die diplomatischen Wirrungen, als ein LKW beladen mit Atemschutzmasken an der deutsch-schweizerischen Grenze aufgehalten wurde.

Als weiterer Beleg für die Unzulänglichkeit von Behörden und Politik taugt, wie unentschlossen und langsam das RKI im Fall Südtirol reagierte. Während nach den Faschingsferien in Baden-Württemberg die Zahl der Infizierten rasant anstieg, wobei die meisten vom Skifahren aus Südtirol – schwerpunktmäßig im Grödnertal - zurückgekehrt waren, herrschte in Berlin Funkstille. Erst auf massive Intervention des baden-württembergischen Gesundheitsministers Manne Lucha (Grüne) handelte Wielers Behörde und erklärte am 5. März Südtirol zum Risikogebiet. Erst danach konnten Behörden vor Ort Schüler vom Unterricht fernhalten, Arbeitgeber Mitarbeiter in häusliche Quarantäne stecken. Der Schulbetrieb war da schon fast eine Woche am Laufen gewesen.

Apropos Fasching und Corona: Kein Verantwortlicher sah es auch als notwendig, Karnevalsveranstaltungen abzusagen. Ein Irrtum, der auch Feigheit vor dem Wähler gewesen sein kann, der sich nun bitter rächt. Bekanntlich gilt die Infektionskette ausgehend von einer Prunksitzung im nordrheinwestfälischen Heinsberg als die aktuell größte in Deutschland. Zwei der bislang drei Corona-Todesopfer hierzulande waren Gäste der närrischen Veranstaltung.

Bundespressekonferenz am 11. 3.2020Gerade vor diesem Hintergrund ist das Geschachere, ob Geister-Fußballspiele angemessen sind, absolut fehl am Platze. Ebenso irrational, selbst aus Laiensicht, ist die Verbotsgrenze von 1000 Menschen, ab denen Veranstaltungen künftig nicht mehr stattfinden sollen. Wie sich erst jüngst in Berlin zeigte, wo sich mehr als ein Dutzend Besucher einer Diskothek mit dem Virus infizierten, gibt es schlicht keinen derartigen Grenzwert. Die Regel in Österreich, wo Veranstaltungen in geschlossenen Räumen mit mehr als 100 Personen seit kurzem verboten sind, ist insofern konsequenter. Auch wenn sie das Übertragungsrisiko bei kleineren Events ebenfalls nicht reduziert.


Inzwischen hat sich glücklicherweise Verstand und Vernunft weiter durchgesetzt. Die Rede ist fast nur noch von einer „dynamischen Entwicklung“. „Die eigentliche Dynamik liegt wohl erst noch vor uns“, so Gesundheitsminister Spahn auf der heutigen Corona-Bundespressekonferenz. Wie verunsichert alle sind, zeigt sich unter anderem daran, dass der Minister vor versammelter Presse Tipps gibt, den Nachwuchs nicht zu den Großeltern abzuschieben, wenn Schulen wegen Corona geschlossen werden.

Dennoch tun sich die Verantwortlichen noch immer schwer, Verbote zum Schutze aller auszusprechen. „Muss es in den nächsten Monaten unbedingt ein Clubbesuch sein?“, deutete Spahn an, dass es zu rigiden Maßnahmen kommen könnte. „Wir sind am Anfang einer Entwicklung, die wir noch nicht genau vorhersehen können“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Andererseits hält die Verharmlosung an. Auf Fragen, wie viele Menschen hierzulande bereits unerkannt infiziert mit dem Virus sind, antwortete RKI-Chef Wieler auf der Bundespressekonferenz unwissenschaftlich, eher nach Bauchgefühl. „Die Dunkelziffer kennen wir nicht genau“, verbreitete der oberste Seuchenschützer der Republik eine Binsenweisheit. Doch weil man bei Covid19 „früh reinschauen“ konnte, sei diese Unbekannte „auch nicht hoch.“

Und in Stuttgart nennt die baden-württembergische Kultursministerin Susanne Eisenmann (CDU) die Forderung eines Lehrerverbands, alle Schulen für zwei Wochen zu schließen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, schlicht "Panikmache".



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